Im Erzählarrangement der christlichen Heiligenlegende wird das Problem der Entscheidung gleich doppelt negiert: Heiligkeit, so eine Prämisse der Gattung im Mittelalter, wird von Gott zugesprochen. Sofern Entscheidungen aber nach modernen Begriffsprägungen kontingent und riskant sind, erscheint die Vorstellung abwegig, ja heterodox, dass der allwissende und allmächtige christliche Gott entscheidet, dass er sich also vor gleichwertig erscheinende Handlungsalternativen gestellt sieht, deren – potentiell schädliche – Folgen ihm nicht oder nur zum Teil bekannt sind. Auch die heilige Person entscheidet nicht. Zwar muss sie, um moralisch sein zu können, willensfrei sein, sich also auch für das Böse entscheiden können. Ihre Autonomie ist aber stets eine von Gott zugesprochene personale Freiheit, die sich im Rahmen einer umfassenden transzendenten Voraus- und Vorsicht bewegt. Heiligkeit ist kein Status, der sich allein durch Glaubenskraft, Liebeshandeln und Leidensfähigkeit erreichen ließe.
Trotz dieser Kontingenznegation ist die Legende auf vielfache Weise mit dem Problem des Entscheidens verbunden. In der Spannung von Providenz und Autonomie liegt sogar eine Konstante ihrer Gattungsgeschichte vom Mittelalter bis zur Moderne. Das gilt, erstens, für die äußeren Entstehungsbedingungen der Legende, denn Heiligkeit wird nicht nur von Gott, sondern notwendig von Glaubensgemeinschaften zugesprochen, die sich in kollektiven Verehrungspraktiken und über textbildliche Medien verständigen, das heißt, entscheiden müssen, wer ihnen als heilig gilt. Entscheidungsprozesse spielen jedoch, zweitens, nicht nur im historischen Kanonisierungs- und Anerkennungsprozess eine Rolle, sondern sind auch wesentliche Elemente des legendarischen Textes. Es gehört so zu den produktiven Problemen legendarischer Erzählungen, dass sie allen Providenzprämissen zum Trotz faktisch oft von Handeln und Entscheiden erzählen, vielleicht erzählen müssen, und sei es von Entscheidungsverzicht. In besonderem Maße werden Entscheiden und Handeln, drittens, für die Legendendichtung der Neuzeit fraglich. Zeichnet sich die Moderne durch Autonomiegewinne, Individualisierung und Differenzierung aus, wie eine grand récit lautet, zugleich jedoch durch Kontingenzerfahrung und Gewissheitsverluste, so muss sich das in der modernen Aneignungsgeschichte der Heiligenlegende deutlich niederschlagen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen hat die Projektgruppe im September 2020 eine interdisziplinäre Tagung zum Thema „Entscheidung zur Heiligkeit? Autonomie und Providenz im legendarischen Erzählen vom Mittelalter bis zur Moderne“ veranstaltet. Im Jahr 2021 haben die Projektleiterinnen und -leiter aus den Vortrags- und Diskussionsbeiträgen einen Tagungsband erarbeitet, der im Frühjahr 2022 im Heidelberger Winterverlag in der Reihe Myosotis. Forschungen zur europäischen Traditionsgeschichte erscheinen wird. Durch die großzügige Förderung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften wird der Band zugleich als Open Access-Dokument erscheinen. Die in dem Band versammelten Beiträge verstehen die Heiligenlegende als Gefüge von konfligierenden Entscheidungsinstanzen: historisch als Produkt einer Aushandlung zwischen Verehrergemeinschaften, kirchlichen Autoritäten und neutralen Publika; figural als Spannung von persönlicher Willensfreiheit und providentieller Determination; und erzähltechnisch als Polarität von Exzeptionalitätsanspruch und generischer Modellierung. Die Konzentration auf die spannungsvolle Darstellung von Entscheidungen ermöglicht eine Zusammenschau von mittelalterlichen und neuzeitlichen legendarischen Texten sowie eine historische und narratologische Perspektive auf das WIN-Thema „Kollektives Entscheiden“. Neben zahlreichen digitalen Treffen für die Herausgabe des Bandes konnte die Gruppe sich auch an zwei Tagen im Juli zu einer Redaktionssitzung in Konstanz treffen.
Für die Projektleiterinnen und -leiter gab es einige erfreuliche Veränderungen. Am 1. Juli 2021 hat das vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Forschungsprojekt „Gattungspoetik des Sakralen. Aneignung geistlich-alteuropäischer Literaturformate in der deutschsprachigen Moderne (18. – 20. Jahrhundert)“ unter der Leitung von Nicolas Detering seine Arbeit aufgenommen. Zum 15. September 2021 trat Beatrice von Lüpke ihre neue Stelle als Universitätsassistentin am Institut für Germanistik an der Universität Wien an. Daniela Blum hat im Herbst den Ruf auf die W2-Professur Kirchengeschichte an der RWTH Aachen angenommen und wird die Professur am 1. April 2022 antreten.
Die Gruppe hat sich im Zuge der Erarbeitung eines Verlängerungsantrags intensiv mit einer Neuperspektivierung der eigenen Fragestellungen auseinandergesetzt. Die Heidelberger Akademie hat dem Verlängerungsantrag unter veränderter personeller Besetzung (Projektleiterinnen und -leiter: Christoph Haack, Tübingen, und Marie Gunreben, Konstanz; assoziierte Mitglieder: Daniela Blum, RWTH Aachen, und Beatrice von Lüpke, Universität Wien) stattgegeben. In der zweiten Förderphase wird der untersuchte Zeitraum zum einen auf die Jahrhunderte zwischen ca. 950 und 1750 verschoben, lassen sich hier doch sowohl die Etablierung von Heiligkeitsfiguren (noch vor der Kanonisation) als auch ihre Entkoppelung von der Legende (in der Frühen Neuzeit) beobachten. Zum anderen soll die Instanz der Figur ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken: Für die Rezeption legendarischer Erzählungen sind Figuren des Heiligen von zentraler Bedeutung, wurden bislang aber noch nicht systematisch erforscht. Das Projekt will in den kommenden zwei Jahren diese Lücke schließen, indem es jüngere narratologische und kognitionswissenschaftliche Ansätze der Figurentheorie an legendarische Erzählungen heranträgt und mit entscheidungstheoretischen Konzepten verbindet.
Bericht aus dem Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 2021