Die Arbeitsstelle Heidelberg (Leiter: Prof. Dr. B. Schneidmüller)

In Heidelberg werden Texte von Autoren aus dem 12. und 13. Jahrhundert erforscht, die grundlegende Ordnungsmodelle entwarfen und damit gezielt auch in die außerklösterliche Lebenswelt wirkten. Die untersuchten Werke entstanden im Kontext von Klöstern oder religiösen Gemeinschaften, wie z.B. der Regularkanoniker oder Bettelorden. Darin sammelten die Verfasser das in ihrer Zeit verfügbare theologische Wissen oder mündliches Erzählgut und brachten es in eine neue Ordnung. Auf diese Weise schufen sie zukunftsweisende Visionen von einer „besseren“ Welt. Sie hinterließen damit eindrückliche Quellen für die zeitgenössische Wahrnehmung, Beschreibung und Bewältigung gesellschaftlicher Umbrüche.
Maßgeblich für die Konzeption dieses interakademischen Projektes waren die wegweisenden Planungen und Forschungen Stefan Weinfurters, der am 27. August 2018 plötzlich und unerwartet in Mainz verstorben ist.
Zielsetzung
(a) Die Erarbeitung neuer Editionen zentraler Quellen der religiösen Lebenswelt des Mittelalters.
(b) Die inhaltliche Auswertung der untersuchten Texte unter kulturwissenschaftlichen und neuen methodischen Fragestellungen.
Projektteil A.1 (Johannes Büge; bis Mai 2023 Dr. Julia Becker)
Im ersten Teilprojekt befasst sich Johannes Büge aktuell mit der Edition, Übersetzung und Kommentierung des Anticimenon ("Widerrede") Anselms von Havelberg, Bischof von Havelberg (amt. 1129-1155) und Erzbischof von Ravenna (amt. 1155-1158). In seinem um das Jahr 1149/50 verfassten Hauptwerk setzt sich Anselm vor allem mit der Einheit des Glaubens gegenüber der Vielfalt religiöser Lebensformen auseinander und regt zum Dialog zwischen Ost- und Westkirche an. Ziel ist eine moderne Neuausgabe dieser geschichtstheologischen Schrift, die in den Kontext des Gesamtwerkes Anselms und in die Institutionalisierungsphase des Prämonstratenserordens eingebettet werden soll.
Grundsätzlich beschäftigen sich die Schriften Anselms auch mit der Ausgestaltung der regularkanonikalen Lebensweise und ihrem Stellenwert in der gesellschaftlichen Gesamtordnung des 12. Jahrhunderts und ergänzen hiermit die im Projektteil A.1 bereits erschienenen Neueditionen regularkanonikalen Schrifttums auf entscheidende Weise.
Abgeschlossene Projekte
Seine Vision von einer „besseren“ Welt, in der alle Kleriker nach apostolischem Vorbild gemeinsam unter einer Regel leben, stellte der Regularkanoniker Gerhoch von Reichersberg in seinem Werk „Über das Bauwerk Gottes“ (Opusculum de aedificio Dei) Mitte des 12. Jahrhunderts vor. Am Rand des Haupttextes belegte Gerhoch seine geradezu radikalen und nicht leicht realisierbaren Forderungen durch zahlreiche Zitate aus kanonistischen und patristischen Autoritäten. Sein Wissen darüber speiste er vor allem aus den gängigen Rechtssammlungen seiner Zeit.
Die im Projektteil A erarbeitete Neuedition bietet nun erstmals eine moderne und kommentierte Aufbereitung mit deutscher Übersetzung des Opusculum de aedificio Dei sowie eine vollständige Erfassung und kritische Auswertung der von Gerhoch zitierten Autoritäten.
Julia Becker (Hg.), Gerhoch von Reichersberg, Opusculum de aedificio Dei. Die Apostel als Ideal (Edition, Übersetzung, Kommentar), unter Verwendung der deutschen Übersetzung von Thomas Insley, KAI 8, 2020, 936 Seiten. Infos unter: www.schnell-und-steiner.de.
Identitätsstiftende Leitlinien für die Ausgestaltung und Verteidigung der regularkanonikalen Lebensweise vermittelt das Scutum canonicorum ("Schild der Kanoniker") Arnos von Reichersberg Mitte des 12. Jahrhunderts. Erstmals erscheint diese zentrale Quelle für die Umsetzung der vita canonica im Salzburger Reformraum nun in einer kritisch kommentierten Edition mit deutscher Übersetzung.
Julia Becker (Hg.), Arno von Reichersberg, Scutum canonicorum (Edition, Übersetzung, Kommentar), KAI 11, 2022, 256 Seiten. Infos unter: www.schnell-und-steiner.de.

Projektteil A.2 (Jonas Narchi M.A., M.A.)
Daneben hat Herr Jonas Narchi M.A., M.A. eine kritische Edition, Übersetzung und Kommentierung der Epistola apologetica Anselms von Havelberg aus dem Zeitraum zwischen 1138 und 1146 erarbeitet. In diesem Verteidigungsbrief unternimmt Anselm den Versuch einer Rechtfertigung des Stands der Regularkanoniker angesichts von Kritik aus den Reihen der Mönche. Konkreter Anlass ist dabei ein Vorfall in der Diözese Halberstadt, der Anselm zunächst als Bischof von Havelberg (amt. 1129-1155), aber auch in fundamentaler Weise in seiner Identität als Regularkanoniker betrifft: Petrus, Propst des Stiftes Hamersleben, verlässt dasselbe und tritt in das Benediktinerkloster Huysburg ein. Daraufhin entbrennt ein Streit zwischen den Kanonikern, die Petrus zwingen wollen, zurückzukehren, und den Benediktinern unter Abt Ekbert, die den Übertritt mit der verdienstvolleren Lebensweise der weltabgewandten Mönche rechtfertigen. Mit der Epistola apologetica, die Anselm an Ekbert richtet, tritt er vehement für die Lebensweise der Regularkanoniker ein und verteidigt das spezifische Charisma des ordo canonicus. Die Edition dieses Briefes kann nicht nur dazu beitragen, das neue Selbstverständnis verschiedener religiös-sozialer Lebensformen im 12. Jahrhundert besser zu rekonstruieren, sondern reiht sich auch hervorragend in die abgeschlossenen und laufenden Arbeiten von Projektteil A.1 ein.
Jonas Narchi (Hg.), Anselm von Havelberg, Epistola apologetica. Edition, Übersetzung, Kommentar, KAI 13), 2024, 264 Seiten. Infos unter: www.schnell-und-steiner.de
Projektteil B.1 (Bearbeiterin: Isabel Kimpel M.A. / wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Julia Burkhardt)

Der Zisterzienser Caesarius von Heisterbach (ca. 1180–1240) ist in der einschlägigen Forschung wie auch der breiteren Öffentlichkeit vor allem als Autor des Dialogus miraculorum (ca. 1214/1219–1223) bekannt. Eine weitere Exempelsammlung aus seiner Feder, die sogenannten „Acht Wunderbücher“ (Libri VIII miraculorum, ca. 1225/27), hat trotz zweier moderner Ausgaben dagegen viel weniger Beachtung gefunden. Ihr reichhaltiger Erzählfundus macht die Libri jedoch zu einer bemerkenswerten Quelle für die politische, kulturelle und religiöse Geschichte des 13. Jahrhunderts. In den vier heute erhaltenen Büchern berichten die Geschichten von Wundererscheinungen, die vor allem der theologischen Erbauung und Unterweisung dienten. Ziel des Projekts ist es deshalb, die Libri in einer modernen Neuausgabe mit deutscher Übersetzung und ausführlichem Kommentar zugänglich zu machen, kodikologisch sowie kulturhistorisch zu analysieren und im Gesamtwerk des Caesarius zu verorten.
Julia Burkhardt erhielt zum WS 2020/21 den Ruf auf die Professur für Geschichte des Mittelalters unter besonderer Berücksichtigung des Spätmittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie bleibt der Heidelberger Forschungsstelle als Kooperationspartnerin
verbunden und behält die wissenschaftliche Leitung für das Teilprojekt „Neuedition und Übersetzung der Libri miraculorum des Caesarius von Heisterbach“.
Abgeschlossene Projekte
Auf der Suche nach der idealen Gemeinschaft der Menschen stieß der Dominikaner Thomas von Cantimpré im 13. Jahrhundert auf die Bienen. In seinem lateinischen „Bienenbuch“ (Bonum universale de apibus) beschrieb er am Beispiel der Bienen Hierarchien, Vorzüge und Abgründe des sozialen Miteinanders. Angereichert mit unterhaltsamen Anekdoten aus dem mittelalterlichen Lebensalltag sollte sein Handbuch die Arbeit der Dominikaner als Prediger und Lehrmeister unterstützen. „Von Bienen lernen“ – diese Idee fand schon im Mittelalter großes Interesse, und so wurde das „Bienenbuch“ im Laufe der Jahrhunderte über einhundert Mal handschriftlich kopiert. Erstmals ist das „Bienenbuch“ nun in einer kritisch kommentierten Edition mit deutscher Übersetzung sowie einer Analyse von Werk und Überlieferungsgeschichte erschienen.
Julia Burkhardt, Von Bienen lernen. Das Bonum universale de apibus des Thomas von Cantimpré als Gemeinschaftsentwurf (Analyse, Edition, Übersetzung, Kommentar), KAI 7, 2020, 1.616 Seiten. Infos unter: www.schnell-und-steiner.de.
Projektteil B.2 (Dr. Volker Hartmann, abgeschlossen 2019)
Im Zentrum der Projektarbeit steht die Schrift De regimine principum des Augustiner-Eremiten Aegidius Romanus (ca. 1243-1316). Das Werk entstand in zeitlicher Nähe zur Verurteilung des Aristotelismus an der Pariser Universität 1277, von der auch der Autor betroff en war. Trotz des Adressaten (Philipp IV., König von Frankreich seit 1285) und obwohl sich das Buch schon im Titel als Fürstenspiegel zu erkennen gibt, wurde es europaweit auch außerhalb der Höfe rezipiert und übersetzt. Mit einer Überlieferung von mehreren hundert Handschriften gehört es zu den im Spätmittelalter besonders häufig tradierten Schriften. Der bis ins 17. Jahrhundert andauernde Erfolg des Textes dürfte sich u.a. damit erklären, dass der Autor eine Zusammenschau der im weitesten Sinne ethisch relevanten Teile der aristotelischen Philosophie bietet. Deren Forderungen richteten sich nicht nur an die Fürsten, sondern auch an ihre Untertanen. Die Überlegungen des Autors zu den Amtskompetenzen des Königs stehen teilweise in offensichtlichem Widerspruch zu den Aussagen in seiner späteren, deutlich besser erforschten Schrift De ecclesiastica potestate (ca. 1302), in der er den Gedanken der päpstlichen Universalherrschaft vertritt. Ziel ist die Bereitstellung einer moderne Gesamtübersetzung und der Transkription einer ausgewählten Handschrift des Textes.
Aegidus Romanus: Über die Fürstenherrschaft (ca. 1277-1279): Nach der Handschrift Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, cod. borgh. 360 und unter Benutzung der Drucke Rom 1556 und Rom 1607 hg. von Volker Hartmann, Heidelberg: heiBOOKS, 2019, 1.313 Seiten. https://doi.org/10.11588/heibooks.569. Download unter:
https://books.ub.uni-heidelberg.de/heibooks/catalog/book/569
Die Arbeitsstelle Dresden (Projektleiter: Prof. Dr. Gert Melville)
Die Arbeitsstelle in Dresden widmet sich der materialgestützten Untersuchung und Analyse von Klöstern und Orden als Generatoren der Moderne. Es wird der Beitrag aufgezeigt, den die vita religiosa zur Ausbildung spezifischer europäischer Ordnungsmodelle leistete, indem in ihr sowohl die Beziehung von Einzelnem und Gemeinschaft als auch das Verhältnis von Rationalität der Gestaltung und transzendenter Sinnorientierung neu bestimmt wurde, wobei das normative Gefüge des klösterlichen Lebens im Zentrum des Interesses steht. Das entsprechende Schrifttum aus dem Zeitraum vom 11. bis zum 13. Jahrhundert wird dabei zum einem im engeren rechtlichen, zum anderen im weiteren hortativen Sinne erfasst und analysiert.
Dabei stehen Texte im Vordergrund, bei denen die kulturelle Deutungsmacht der Klöster in besonderer Weise programmatisch greifbar wird: Mahnschriften und didaktische Traktate, Kloster- oder Ordensregeln und Statuten sowie deren Kommentare, welche die Rechtsordnung der Gemeinschaften bestimmten. Derartige Schriften sollten nach innen wirken und standen doch immer auch im Bezug zur Welt.