Das Projekt ‚Hinduistische Tempellegenden in Südindien‘ erschließt die Tempellegenden der südindischen Stadt Kanchipuram in ihren unterschiedlichen Überlieferungsformen und macht sie in einer digitalen Umgebung zugänglich. Im Zentrum des Projekts steht die Erstellung digitaler Editionen der auf Sanskrit und Tamil verfassten Texte. In einem zweiten Schritt werden diese Editionen mit der aufgearbeiteten Dokumentation der relevanten Tempelarchitektur und Ikonographie sowie von Ritualen und mündlicher Überlieferung verknüpft, um textliche und nicht-textliche Formen der Tempellegenden in einem digitalen Korpus zusammenzuführen. Dies erlaubt ein neues Verständnis dieses wichtigen kulturellen Erbes sowohl in seiner historischen Tiefe als auch in seiner gelebten Realität.
Das 2022 eingerichtete Projekt ist auf eine Gesamtlaufzeit von 16 Jahren ausgelegt. Neben der Forschungsstelle in Heidelberg besteht eine Zweigstelle in Pondicherry (Indien) in Kooperation mit der École française d’Extrême-Orient (EFEO).
Das Material
Tempellegenden (Sanskrit māhātmya oder sthalapurāṇa) sind hinduistische Schriften, die die Ursprungsgeschichten von Tempeln und anderen heiligen Orten durch mythologische Narrative erzählen. Eine Vielzahl solcher Texte wurde im Mittelalter und der frühen Neuzeit in der Gelehrtensprache Sanskrit, aber auch in indischen Regionalsprachen verfasst. Als Verbindungsglied zwischen überregionalen und lokalen Traditionen sowie historischem und zeitgenössischem Hinduismus sind Tempellegenden äußerst wertvolle Quellen für die Erforschung indischer Religiosität.
Zugleich existieren Tempellegenden nicht nur als Texte, sondern auch in mündlicher, performativer und materieller Form: sie werden von Mund zu Mund weitererzählt, rituell inszeniert, auf Tempelwände gemalt und zu Skulpturen geformt. Auch für die heute gelebten hinduistischen Traditionen sind diese Narrative von zentraler Bedeutung. Somit bieten Tempellegenden in außergewöhnlicher Weise die Gelegenheit, das Verhältnis von autoritativen Texten und gelebter Praxis sowie zwischen schriftlicher und nichtschriftlicher Überlieferung zu untersuchen.
Der Ort
Im Fokus des Projektes stehen die Tempellegenden der südindischen Stadt Kanchipuram, rund 70 Kilometer westlich von Chennai (Madras) im Bundesstaat Tamil Nadu gelegen. Als eine der sieben heiligen Städte des Hinduismus ist Kanchipuram ein Ort von großer religiöser Bedeutung. Zudem sind mit dem Śivaismus, dem Viṣṇuismus und dem Śaktismus alle drei Hauptrichtungen des Hinduismus in Kanchipuram gleichermaßen stark vertreten. Mit seinen zahlreichen historischen Tempeln und seinen lebendigen religiösen Traditionen ist Kanchipuram ein besonders geeigneter Ort, um Tempellegenden in ihrer Beziehung sowohl zum historischen als auch zum zeitgenössischen Hinduismus zu erforschen.
Die Texte
Ziel des Projektes ist die Erstellung digitaler Editionen samt kommentierter Übersetzungen des gesamten Korpus der Tempellegenden von Kanchipuram. Dieses Korpus umfasst acht umfangreiche Texte auf Sanskrit und in der lokalen Sprache Tamil, die durch das Projekt erschlossen und zugänglich gemacht werden. Die Einbeziehung des gesamten Korpus der Tempellegenden von Kanchipuram erlaubt den Vergleich verschiedener sektarischer Versionen sowie der Parallelversionen auf Sanskrit und Tamil.

Das Editionsprogramm umfasst die Digitalisierung aller verfügbarer Textzeugen (Handschrifen und Drucke), ihre Untersuchung nach historisch-philologischen Prinzipien sowie die Erstellung digitaler Editionen und Übersetzungen. Ziel der Editionen ist nicht die Rekonstruktion eines vermeintlichen Urtextes, sondern die Sichtbarmachung der verschiedenen oft stark divergierenden Versionen, in denen die Texte übermittelt worden sind. Die Ergebnisse werden in Form digitaler Editionen publiziert, die es erlauben, verschiedene Textversionen flexibel zu visualisieren sowie Paralleltexte miteinander zu verknüpfen. Ergänzt werden die Editionen durch englische Übersetzungen der Texte samt umfangreicher Anmerkungen.
Materielle, mündliche und performative Überlieferungsformen
Neben der Edition der Texte erfasst das Projekt die Tempel, die in den Texten beschrieben werden, sowie materielle, mündliche und performative Versionen der Tempellegenden. Dazu werden die Bauwerke und ihre Ikonographie fotographisch dokumentiert sowie mündliche Nacherzählungen und rituelle Aufführungen der Tempellegenden auf Video aufgenommen. Diese Daten werden mit den Texteditionen verknüpft und schaffen so ein konsolidiertes Korpus, das es erlaubt, in einer digitalen Umgebung auf alle Versionen der Tempellegenden Kanchipurams unabhängig von ihrem Format zuzugreifen.