Die AG "Kulturelles Erbe" erarbeitete in kritischer Betrachtung eine Übersicht über Arbeitsweisen und Chancen der Akademieprojekte der HAdW im Hinblick auf das Kulturelle Erbe in der Forschung. Dabei waren die nachfolgenden Gesichtspunkte und Ziele leitend:
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Bestandsaufnahme
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Diskussion und Kritik an dem Konzept des kulturellen Erbes
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Antworten der Akademie auf Kritikpunkte
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Perspektiven zur größtmöglichen Sichtbarkeit und Nachhaltigkeit der akademieinternen Forschung
Am 13.06.2022 konnte ein Ergebnispapier auf der Vorstandssitzung der HAdW präsentiert und dort verabschiedet werden.
Ergebnispapier der AG
Der erforschende Zugang der deutschen Akademien zum kulturellen Erbe ist in der Breite und Tiefe mit über 180 Forschungsstellen weltweit einzigartig. In einem eigenen kompetitiven und rein wissenschaftsgesteuerten Exzellenzwettbewerb streben die Akademien an, wertvolles und seltenes Material sowie schwierige Sachverhalte geduldig, gründlich und nachhaltig für die Forschung und Öffentlichkeit zu erschließen. Dabei sind die nachfolgenden Gesichtspunkte und Ziele leitend.
1. Bestandsaufnahme
Das Thema ‚Kulturelles Erbe‘ hat Konjunktur. Die EU lobte 2018 das ‚Jahr des Kulturerbes‘ aus, es entstehen Studiengänge zum Thema, in Deutschland gibt es mindestens zwanzig Verbundprojekte zum Thema ebenso wie UNESCO-Professuren in Europa. Auch die vom Bund und den Ländern gemeinsam finanzierten acht Wissenschaftsakademien haben die bewahrende Forschung des kulturellen Erbes zu einem zentralen Teil ihrer Arbeit gemacht. Nach einem höchst kompetitiven Auswahlprozess erschließen sie in durchschnittlich 15–20 Jahre dauernden, überwiegend geistes- und sozialwissenschaftlichen Langzeitprojekten, dem sogenannten Akademienprogramm, bislang nicht oder nur auszugsweise bearbeitete historische Ressourcen aus verschiedenen Kulturen. In diesem international einzigartigen, offen ausgeschriebenen Programm, das insgesamt 123 Projekte in 181 Arbeitsstellen und ein Finanzvolumen von jährlich ca. 70 Millionen Euro umfasst, arbeiten rund 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Themen- und Materialauswahl unterliegen allein den Kriterien der Exzellenz und der Freiheit der Wissenschaft. Darüber hinaus steht das kulturelle Erbe im Mittelpunkt vieler wissenschaftlicher Vorträge und Arbeitsgruppen der Akademien.
Wie fast alle Forschungseinrichtungen betreibt auch die Heidelberger Akademie der Wissenschaften (HAdW) Grundlagenforschung, teilweise im Verbund mit anderen Akademien. Sie erarbeitet unter anderem Lexika, namhaft etwa das Deutsche Rechtswörterbuch oder das Goethe-Wörterbuch; Gesamtausgaben wie etwa der Schriften von Karl Jaspers; ausführliche Kommentare zu den literarischen Werken etwa von Malalas oder Nietzsche; umfangreiche Editionen von Briefwechseln aus der frühen Neuzeit; Inschriften im buddhistischen China, der europäischen Antike oder dem Mittelalter; literarische Keilschrifttexte aus Assur; vormoderne Dokumente aus Nepal; breite Themen wie die raumzeitlichen Wanderbewegungen von Hominiden im Zeitraum von vor 3 Millionen bis 20.000 Jahren vor heute; die Strukturen und Funktionen der Tempel im alten Ägypten oder der Klöster im europäischen Hochmittelalter. Diese Arbeit an Grundlagen geht nur in geduldiger Auseinandersetzung mit der Sache. Nötig ist gerade die erschließende Arbeit an grundlegenden sprachlichen Sachverhalten (z. B. in Wörterbüchern) oder an bestimmten, etwa für die erforschten Kulturen relevanten Texten (in Editionen) oder an konkreten Plätzen und materiellen Kulturgütern (in Grabungsprojekten und dem Umgang mit Objekten) – genau das ist es, was die Projekte ausmacht. Ein solches Vorgehen erfordert längere zeitliche Dimensionen, die über das Maß üblicher Projektförderung von wenigen Jahren hinausreichen, weil sonst die nötige Expertise nicht erarbeitet werden kann und somit das Ziel der fundierten Erschließung großer Corpora oder Materialsammlungen verfehlt wird.
In der entsprechenden Auseinandersetzung mit derartigen Gegenständen leisten die Projekte und damit die Akademien daher einen sehr spezifischen und insofern unverzichtbaren Beitrag zum echten Verständnis des jeweils Anderen in der Welt des 21. Jahrhunderts, synchron wie diachron. Es wird dort in der Tat vieles von dem auf nachhaltige Art zusammengetragen, präsentiert und für weitere Forschung zur Verfügung gestellt, was wirklich ein kulturelles Erbe darstellt. Aber es wird gerade in dieser Form nicht nur als Erbe bestimmter Gruppen respektiert, sondern auch als Teil des universellen Erbes menschlicher Zivilisation(en) verstanden, als materieller und immaterieller Reichtum ganz eigener Art, als zentraler Wissensspeicher für die Zukunft, die Wissenschaft und die Öffentlichkeit sowie als unverzichtbarer Beitrag zur Dokumentation des kulturellen Gedächtnisses der Menschheit.
2. Diskussionspunkte
Mit seiner Ausrichtung steht das Akademienprogramm aber auch inmitten einer wachsenden Diskussion und Kritik an dem Konzept des kulturellen Erbes. Da ist zum einen die Offenheit des Begriffs ‚kulturelles Erbe‘, der fast alles einschließen kann. Allein die Liste der UNESCO ist lang. Sie umfasst Objekte (z. B. Bauten, Monumente, Artefakte), Wissen (Texte, traditionelle Medizin), Orte (Städte, Landschaften, historische Städte, archäologische Stätten, Ruinen, Parks und Gärten) sowie Praktiken (Handwerkstechniken, Tänze, Musik). In dieser Vielfalt wird seit den 1980er Jahren auch unterschieden zwischen ‚tangible‘ (Gebäude, Objekte, Manuskripte) und ‚intangible heritage‘ (Feste, Lieder, Literatur, Rituale, Theater, Tänze, orale Traditionen, Sprachen), Kulturerbe und Naturerbe, offiziellem (staatlichem) und inoffiziellem Kultur- bzw. Naturerbe.
Diese dramatische Zunahme an Bestimmungen und Deklarierungen von kulturellem Erbe hat zu einem besonders signifikanten Eindringen der Vergangenheit in die Gegenwart geführt. So entstand ein Wissensschatz von auch wirtschaftlich beachtlichem Ausmaß, der neben den Akademien Museen, Bibliotheken, Denkmäler, Galerien, Archive, digitale und analoge Sammlungen umfasst sowie immer wieder zu neuen Forschungsprojekten und Konferenzen führt. Nicht zuletzt ist das kulturelle Erbe ein Faktor für die Attraktivität von Standorten und Tourismus.
Freilich sind diese Tätigkeiten selbst historisch bedingt. Vorbereitet durch Ideen der Aufklärung und des Historismus ist die Idee des kulturellen Erbes im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert zusammen mit vielen der genannten Einrichtungen entstanden, die mittlerweile weltweit verbreitet sind. Namentlich nationalstaatlich geprägte Museen und Archive gehen einher mit den ebenfalls die Moderne charakterisierenden Methoden des typologisch, geographisch und chronologisch exorbitanten Klassifizierens und Ordnens, zu dem umfangreiche Datenbanken in erheblichem Maße beitragen.
Dieses mittlerweile ubiquitäre Erinnern, Ansammeln, Ordnen und Bewahren von historischem Material ist in seiner Fülle aber ein Phänomen der Moderne. In gewisser Hinsicht wird kulturelles Erbe zu einem Spiegel der als brüchig empfundenen Gegenwart. Es gründet auf einer Furcht vor dem unwiderruflichen Verlust, der Zerstörung, dem Auslöschen und Vergessen, die der Moderne nach einem weitverbreiteten Verständnis durch das permanente wirtschaftliche und wissenschaftliche Erfordernis von Wechsel und Erneuerung eingeschrieben zu sein scheint.
Das Thema ‚Kulturelles Erbe‘ steht damit vor einer Reihe von Herausforderungen: die breite Definition, die klare Unterscheidungen erschwert; das Konzept des unendlichen Bewahrens, das mit der Digitalisierung ein Vergessen kaum zulässt; die westliche Herkunft des Konzepts in Verbindung mit einem entsprechenden Verständnis der Globalisierung, die nicht-westliche Einstellungen zur Vergangenheit häufig nicht beachtet; die Gefahr, dass das kulturelle Erbe für politische Aktivitäten, etwa in Ikonoklasmen, benutzt wird, oder die bisweilen politisch brisante Frage, wem das kulturelle Erbe eigentlich „gehört“, die zu Restitutionen und auch für die Akademie relevanten urheberrechtlichen Fragen führt.
3. Antworten der Akademien
In seiner speziellen Ausrichtung begegnet das Akademienprogramm diesen immer wiederkehrenden Kritikpunkten. So stimmen die HAdW und ihre Schwesterakademien dem Grundsatz zu, dass das kulturelle Erbe dazu dient, in der Gegenwart zu fragen, was aus der Vergangenheit kommend für die Zukunft zu bewahren ist. Im weitesten Sinn ist darunter das aus der Vergangenheit Überkommene zu verstehen, das in Gestalt des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ weiterwirkt und in der Gegenwart Grundmuster der Wahrnehmung und des Verhaltens bestimmt, nicht zuletzt, um Fehlentwicklungen zu verhindern. Die Akademien setzen aber in ihrer Arbeit deutlich spezifischere Rahmen, indem sie sich auf größere Ressourcen konzentrieren, um somit größere Zusammenhänge zu erfassen und das Material in seiner Tiefe zu erforschen. Es gibt für sie kein Sammeln ohne das wissenschaftsgeleitete, exemplarische Erschließen unter Nutzung vielfältiger Methoden und Möglichkeiten, ohne eine hohe und damit seltene Fachkompetenz. Diese Form des kritisch erschließenden Sammelns und Zusammenstellens begrenzt jeden Anspruch auf Vollständigkeit.
Darüber hinaus weichen die Akademien nicht der Frage aus, wem das kulturelle Erbe gehört. Im Gegenteil, sie pflegen eine internationale Zusammenarbeit, erarbeiten das Material mit Kolleginnen und Kollegen aus den Herkunftsländern, betreiben also eine Art geteiltes Erbe (‚shared heritage‘) und geteiltes Wissen (‚shared scholarship‘), bei dem die eigenen und die anderen Traditionen im internationalen Austausch und Dialog erschlossen werden. Auf diese Weise sind Forschungen auch weitgehend dem politischen oder populistischem Zugriff entzogen. Die Projekte haben prinzipiell eine universale bzw. globale (und nicht eurozentrische) Perspektive, die zur Auseinandersetzung mit komplexen Phänomenen ganz anderer (und zunächst einmal fremder) Kulturen zwingt. Sie stehen zu uns in räumlicher, zeitlicher oder normativer Distanz. Gegen kulturalistische und identitäre Tendenzen, die nur dem jeweils Zugehörigen die Beschäftigung mit solchen Phänomenen erlauben, versuchen die Akademiemitglieder und die Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter für sich und andere diese Phänomene mit den erprobten und für Innovationen per se offenen Methoden der Wissenschaft zu erschließen. Angesichts der erwähnten Distanz und der daraus resultierenden hermeneutischen Herausforderungen ist dabei auch langer Atem und große Geduld im Umgang mit dem zunächst sehr Fremden oder notwendigerweise Unbekannten gefordert, dem ja nicht eine bestimmte Sicht übergestülpt werden soll.
Die Langzeitprojekte sind damit nicht die ‚Spielwiesen‘ renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern entstehen in vielfältigen Formen der Kooperation und werden – auch das ist im Wissenschaftsprozess eher selten – kritisch begleitet durch Kommissionen, die sich zusammensetzen aus Mitgliedern anderer Forschungsstellen und aus internationalen Expertinnen und Experten, die den kundigen Blick von außen besitzen. Weil sich zudem die Forschungsstellen in einem harten Auswahl- und Überprüfungsprozess ständig den Fragen der kulturellen und gesellschaftlichen Relevanz stellen müssen, gehen sie nicht von einem intrinsischen Wert des kulturellen Erbes und einem naiven Erhaltungsdogma aus. Durch die Publikation der Forschungsergebnisse der Akademieprojekte wird kulturelles Erbe vielfach überhaupt erst sichtbar und global verfügbar, vor allem in offenen digitalen Formaten.
4. Perspektiven
Die Langzeitprojekte arbeiten daran, ihre Ergebnisse sowohl der Forschung als auch einem breiteren Publikum durch größtmögliche Sichtbarkeit und Nachhaltigkeit zur Verfügung zu stellen, etwa durch dauerhaft zugängliche Publikationen und Datenbanken von höchster Qualität.
Wenn wir als Akademie also darauf pochen, dass wir das von verschiedenen Seiten Geforderte schon leisten, dann sollten wir aber aktuell (und auch im Wissen um verschiedene Defizite) deutlicher betonen, dass wir das Potenzial, das in unserer Arbeit liegt, noch besser erschließen und den erwähnten Beitrag noch effizienter leisten können. Dazu schlagen wir vor:
- die verschiedenen Arbeiten und Forschungsstellen gerade angesichts der unvermeidlichen Spezialisierung untereinander noch stärker aufeinander zu beziehen;
- sie miteinander digital zu vernetzen, innerhalb und zwischen den Akademien, dabei, sofern möglich, digitale Insellösungen aufzubrechen und interoperable Lösungen zu suchen, die Forschungsergebnisse auch über die Laufzeit eines Projektes hinaus offen zugänglich zu halten, Synergien zu schaffen, zum Beispiel über ‚Linked Data‘ und an CIDOC CRM angeschlossene Ontologien, und/oder die Möglichkeiten der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) oder anderer Konsortien verstärkt zu nutzen;
- in solche Vernetzungen ganz besonders auch Akteure aus den kulturellen Milieus, mit denen wir uns beschäftigen, verstärkt einzubeziehen;
- dabei uns auch in grundlegende und aktuelle Debatten und Theorien zu den Herausforderungen des kulturellen Erbes einzubringen;
- unsere Arbeit immer wieder (und mehr, als dies durchaus schon geschieht) im öffentlichen Raum sichtbar zu machen;
- und uns insbesondere dann zu Wort zu melden, wenn unsere Expertise erlaubt, eine konkrete aktuelle (politische) Konstellation angemessener zu verstehen.