Das Projekt forscht im Bereich der jüdischen Diaspora-Kultur im mittelalterlichen Frankreich. Obwohl die wichtigsten jüdischen Wissensquellen (Bibel, Talmud und Rechtsliteratur) auf Hebräisch verfasst waren, war das Altfranzösische die Umgangssprache der Juden, und die jüdisch-französische Alphabetisierung ist in verschiedenen literarischen, wissenschaftlichen und religiösen Texten aus dem 11. bis 14. Jahrhundert belegt. Die Besonderheit liegt darin, dass die altfranzösischen Texte in hebräischer Schrift verfasst wurden. Das übergeordnete Ziel des Projektes ist die Erforschung der Verflechtung der hebräisch-französischen jüdischen Kultur mit dem nicht-jüdischen volkssprachlichen intellektuellen Umfeld vom 12. bis zum 14. Jahrhundert. Im Zentrum des Projektes stehen hebräisch-französische Bibelglossare und vocabularia, zumeist aus dem 13. Jh., die zum größten Teil erstmals ediert und historisch-philologisch bearbeitet werden. Insgesamt sind es ca. 105.000 altfranzösische Lexien in hebräischer Schrift, die in ihrem Verhältnis zu den profanen und geistlichen altfranzösischen Literaturen aufgearbeitet werden sollen.
Die Glossare sind exzeptionelle Zeugen für eine sich zeitgleich entwickelnde (jüdische und christliche) französische (Bibel-)Lesekultur in Westeuropa. Sie bilden Grundlagentexte für die Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen der jüdischen Geistesgeschichte und der nicht-jüdischen Umwelt. Ihre Bearbeitung stellt der historischen Darstellung eines leidvollen Antagonismus christlich-jüdischer Beziehungen das Bild einer kulturell fruchtbaren Interdependenz zwischen der französischen Vernakularliteratur und der jüdischen Bildungsgesellschaft an die Seite, die bislang erst in Ansätzen erkannt und gewürdigt wurde.
Durch die Anwendung modernster digitaler Werkzeuge wird das Projekt eine solide praxeologische, philologische und linguistische Grundlage schaffen, um die jüdische religiöse Bildung als Teil des gemeinsamen intellektuellen Erbes der französischsprachigen Welt in der Region der Langue d’oïl darzustellen. Durch die Zusammenführung einzigartiger Expertise aus der Judaistik, der Romanistik und der mittelhochdeutschen Philologie wird das Projekt zu einer grundlegenden Neubewertung der jüdischen Kultur im mittelalterlichen Frankreich beitragen, der zufolge die Juden danach strebten, ein mächtiger Teil der europäischen Bildungskultur zu sein.